SBB planen ohne Rücksicht auf Behinderte

  • 800 Millionen Franken wollen die SBB in 29 neue Züge investieren. Dabei prüfen sie auch eine Neigezugtyp, der laut BAV gegen das Behindertengleichstellungsgesetz verstösst.

    Die SBB will für 800 Millionen Franken 29 neue Züge für die Gotthard-Basisstrecke kaufen - und prüft unter anderem den Kauf von Neigezügen des Typs ETR610. Dies, obwohl das Bundesamt für Verkehr (BAV) klar darauf hinweist, dass dieser Zugtyp gegen das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) verstösst.

    Am letzten Dienstag habe ein Treffen zwischen BAV und SBB stattgefunden, bestätigt ein BAV-Sprecher einen Artikel der «AargauerZeitung» vom Freitag. Besprochen wurden Zulassungsfragen für neue Züge auf der Gotthardachse. Insbesondere machte das BAV darauf aufmerksam, dass bei Neubeschaffungen das seit 2004 geltende BehiG im öffentlichen Verkehr zu respektieren sei.

    Personen mit eingeschränkter Mobilität müssen demnach autonomen Zugang zu Zügen haben. Konkret heisst dies, dass auch eine Person mit Rollstuhl oder mit Rollator selbstständig ein- und aussteigen kann. Der ETR 610 erfüllt diese Anforderung gemäss BAV nicht.

    SBB verweist auf Verhältnismässigkeit

    Bei der SBB gibt man sich unbeeindruckt. Bei den neuen Zügen könnte es sich unter anderem auch um ETR610 handeln, teilt die SBB auf Anfrage mit. Der Evaluationsprozess laufe noch, man prüfe verschiedene Optionen.

    Ein wichtiger Punkt im Gleichstellungsgesetz sei die Verhältnismässigkeit, teilt die SBB weiter mit. Aus diesem Grund werde es voraussichtlich Ausnahmeregelungen geben. So könnten zum Beispiel sogenannte Mobilitätshelfer zum Einsatz kommen, Personen also, die Behinderten beim Ein- und Aussteigen helfen.

    Mobilitätshelfer kein gleichwertiger Ersatz für autonomen Zugang

    Beim BAV wird die SBB mit dieser Argumentation aber kaum durchkommen. Denn das Bundesamt erwartet, dass mit der auf 2019/20 geplanten Eröffnung der durchgehenden Gotthardbasisstrecke «ein wesentlicher Teil des Angebots mit Rollmaterial gefahren wird, welches den Anforderungen des BehiG entspricht.» Insbesondere gelte dies für den autonomen Zugang.

    Ein Mobilitätshelfer sei kein gleichwertiger Ersatz für einen autonomen Zugang, präzisiert ein BAV-Sprecher auf Anfrage. Tatsächlich sind spontane Reisen kaum möglich, wie ein Blick auf die SBB-Homepage zeigt. Der Mobilitätshelfer muss mindestens eine Stunde vor Abfahrt des Zuges bestellt werden, Ein- und Aussteigen ist nicht an jedem Bahnhof möglich.

    Entscheid im ersten Halbjahr 2014

    Auf der heutigen, alten Gotthardstrecke sind ebenfalls ETR610-Züge im Einsatz - hier allerdings mit dem Segen des BAV. Denn Ausnahmen sind möglich, wenn dank der Neigetechnik Fahrzeit eingespart werden kann. Auf der kurvenreichen Strecke über den Gotthard ist dies der Fall, der neue Basis-Strecke verläuft hingegen deutlich gerader.

    Die SBB hat den Grossauftrag für die 29 neuen Züge im Jahr 2012 ausgeschrieben. Nach Verzögerungen soll nun im ersten Halbjahr 2014 ein Entscheid fallen, wie die SBB mitteilt. Insgesamt sind vier Offerten eingegangen, der Kauf von weiteren Neigezügen ist eine zusätzliche Option.

    Übergangslösung mit Zug Typ ETR610

    Daneben hat die SBB bereits sieben weitere Züge des Typs ETR610 bestellt. Diese sollen ab 2015 über die Gotthard-Bergstrecke fahren und nach der Eröffnung des neuen Tunnels Ende 2016 auch im Basistunnel. Es handle sich dabei aber nur um eine Übergangslösung. Aufgrund der laufenden Gespräche mit dem BAV erwarte man keine Hindernisse beim Zulassungsverfahren.

    Die aktuelle SBB-Planung sehe vor, «dass die ETR610 ab 2019 schrittweise durch die neuen Züge abgelöst werden». Auf die Frage, ob es sich bei diesen neuen Zügen wiederum um ETR610 handeln könnte, antwortet die SBB: «Das könnten weiterhin ETR610 sein - möglicherweise auch andere Züge.»

    Quelle: 20 Minuten (18.1.14)

  • Als Verkehrsunternehmen sollte man nicht allen (Maximal-)Forderungen nachkommen, die technisch oder finanziell nicht oder nur schwer zu erfüllen sind. Darum verstehe ich die Haltung der SBB. Das Behindertengleichstellungsgesetz wird auch der BVB und der Stadt Basel noch ordentlich einschenken - siehe die Diskussion auf dem Bruderholz.

    Die mit Steuergeldern bezahlten "Bedenkenträger" gilt es, zum Eingehen von Kompromissen zu bewegen. Gesetze sind bei der Anwendung immer der Auslegung ihres Wortlautes unterworfen.

    Die Überschrift "ohne Rücksicht auf Behinderte" finde ich tendenziös gehalten und soll Stimmung machen.