Die Zweiklassengesellschaft im öffentlichen Verkehr steht unter Beschuss. In Regionalzügen und am Wochenende soll die 1. Klasse aufgehoben werden, fordern Studenten und Politiker.
Es ist ein bekanntes Bild auf den Perrons: Die Einsteigenden drängen sich auf die wenigen freien Plätze in der zweiten Klasse, während in den Erstklasswagen noch viel freier Platz ist. Jetzt wird Kritik an dieser ungleichen Auslastung laut.
Die Nationalrätin Aline Trede (Grüne) wird in der Frühlingssession einen Vorstoss einreichen, um die erste Klasse an Wochenenden abzuschaffen. Dafür will sie den Leistungsvertrag des Bundesamts für Verkehr abändern.
«Am Wochenende sind viele Erstklassabteile im Vergleich zu den Wochentagen besonders schlecht ausgelastet», sagt Trede. In den Zügen zu beliebten Ausflugszielen seien die Zweitklassabteile oft mit Wanderern, Familien und anderen Ausflüglern voll. Im gleichen Wagen hingegen blieben die Erstklasssitze leer. Würden Erst- und Zweitklassabteile dank freier Platzwahl aufgefüllt, könnten die Zugskompositionen an Wochenenden mit weniger Wagen unterwegs sein: «Das spart Energie und ist ökologisch sinnvoll.»
«Am Wochenende keine Zweiklassengesellschaft in den Zügen»
Früher hätten sich die Bahnunternehmen noch kulanter gezeigt als heute und bei vollen Zweitklasswagen die Benutzung der ersten Klasse für alle erlaubt. Diese freie Platzwahl will Trede an zwei von sieben Tagen zum Normalfall machen: «Es soll für alle klar sein: Am Wochenende gibt es keine Zweiklassengesellschaft in den Zügen.»
Kurt Schreiber von Pro Bahn, dem Interessenverband der Bahnkunden, lehnt Tredes Vorschlag ab: «Das ist keine gute Idee.» Die SBB reagierten schon heute bei stark frequentierten Zügen zu Ausflugszielen und würden Zusatzwagen an die Zugskompositionen anhängen. «Mir ist lieber, es ist ein Wagen mehr unterwegs, als dass man die erste Klasse am Wochenende abschafft.»
«Will nicht, dass sich jeder auf den Platz nebenan setzen kann»
Wäre das Erstklass-GA nur noch an fünf von sieben Tagen gültig, würde es dadurch entwertet. Er geht davon aus, dass die Nachfrage zurückgehen würde. Damit drohe längerfristig die Abschaffung der ersten Klasse. Wer ein Erstklass-GA besitzt, habe auch am Wochenende ein Anrecht auf Komfort.
Für ein Erstklass-GA bezahle man fast 2000 Franken mehr als für eines der zweiten Klasse: «Da will man doch nicht, dass am sich am Sonntag jeder auf den Platz neben mir setzen kann.»
Doch nicht nur am Wochenende, auch während der Stosszeiten wird die erste Klasse in Frage gestellt. Die Tessiner Studenten- und Lehrlingsgewerkschaft Sisa fordert die Abschaffung der ersten Klasse in den Regionalzügen.
«Welches städtische Netzwerk hat zwei verschiedene Klassen?»
Mit einer Aufhebung der ersten Klasse nur zu den Spitzenzeiten an den Wochentagen könnte die Sisa auch leben. «Wir verstehen nicht, warum die zweite Klasse überfüllt sein soll, während die Erstklasswagen halbleer sind», sagt Janosch Schnider, Koordinator der Sisa. Dem Platzproblem könne man zwar langfristig nur mit einem strukturellen Ausbau begegnen, aber die Aufhebung sei auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten rational.
Schnider vergleicht den Tessiner Regionalverbund TiLo mit dem Verkehrsnetz einer europäischen Grossstadt: «In welchem städtischen Netzwerk kennt man zwei verschiedene Klassen?», fragt er.
SBB: «Vorschlag ist nicht umsetzbar»
Der Vorschlag der Tessiner Studenten findet auch schweizweit Gefallen. «Die Abschaffung der ersten Klasse in den Regionalzügen ist ein erster Schritt in die richtige Richtung», sagt Lea Oberholzer, Geschäftsleitungsmitglied des Verbands der Schweizerischen Studierendenschaften (VSS). Studenten seien auf den öffentlichen Verkehr angewiesen, doch die Preise dafür seien sehr hoch. «Ein Erstklassbillet können sich Studierende sowieso nicht leisten.» Mit einer Aufhebung der ersten Klasse verbessere sich das Platzangebot für alle - auch für Studenten.
SBB-Sprecherin Roberta Trevisan kann dem Vorschlag der Tessiner Studenten zwar Sympathien abgewinnen, hält ihn aber für nicht umsetzbar. Die Leistungsverträge zwischen dem Bundesamt für Verkehr (BAV), den Kantonen und den SBB sehe eine Differenzierung der Dienstleistung vor, welche die Bahnunternehmen zu einem Angebot mit Erst- und Zweitklassplätzen verpflichte. Sie verweist ausserdem auf die gestiegenen Erstklass-Benutzerzahlen im Tessin.
Für das Anliegen der Tessiner Studenten hat auch Aline Trede Verständnis. Sie will aber selber nicht so weit gehen. Sie könne verstehen, wenn Leute, die täglich mit dem Zug unterwegs seien, auf dem Arbeitsweg den Komfort und die Ruhe der ersten Klasse wünschten. Samstags und sonntags spricht für Trede jedoch nichts gegen eine Aufhebung der ersten Klasse: «Dann sind weniger Berufstätige unterwegs, die in Ruhe arbeiten wollen.»
Quelle: 20 Minuten (15.1.14)