Die «Mirage»-Trams setzen zur Landung an
Vor einem Generationenwechsel beim Rollmaterial der Verkehrsbetriebe Zürich
Im März wird das erste Fahrzeug einer Serie von 68 «Cobra»-Trams bei den Verkehrsbetrieben Zürich eintreffen. Mit den neuen Schlangen auf Schienen wollen die VBZ in den nächsten Jahren die Hälfte ihres Wagenparks ersetzen, insbesondere die «Mirage»-Kompositionen, mit denen in den sechziger Jahren die Fahrt hin zum modernen Tram begann.
Vier Generationen von Zürchern sind mit ihnen aufgewachsen, und sie sind in ähnlicher Weise zu einem Synonym für die Limmatstadt geworden wie die kürzlich ausrangierten «Routemaster»-Autobusse mit ihren luftigen Heck- Plattformen für London. Ansichtskarten mit Zürcher Strassenszenen kommen selten ohne sie aus, und immer, wenn das Fernsehen über den Bankenplatz Schweiz berichtet, fahren sie sogar in der guten Stube quer über den Paradeplatz - zumindest auf dem Bildschirm: die grosse Schar jener Trams, die vor just 40 Jahren ihren Einstand auf dem Zürcher Schienennetz gaben und die ab diesem Frühjahr bis 2011 durch neue «Cobra»-Kompositionen mit durchgehend tiefem Wagenboden abgelöst werden.
Stolze, aber wohlkalkulierte Preise
Der Generationenwechsel erfolge nach 40 Jahren zeitlich «punktgenau», sagt Kurt Sauter, der bei den VBZ seit über drei Jahrzehnten für die technische Entwicklung des Tramwagenparks zuständig ist. Am 31. März 1966 präsentierten die Verkehrsbetriebe den Medien ein neues, grosszügiges Gesicht auf Schienen: den ersten von 90 Be-4/6-Motorwagen mit zwei Gelenken, die in der Gemeinde der Tram-Bediensteten und Tram- Begeisterten schon bald «Mirage» heissen sollten. Wie sie zu diesem Spitznamen kamen, lässt sich nicht abschliessend klären. Gegeben scheint der Zusammenhang mit den kurz zuvor beschafften Kampfflugzeugen gleichen Namens; möglich ist, dass das beim Bremsen vage an einen Düsenjäger erinnernde Geräusch der Trams dem inoffiziellen Namen zuträglich war.
«Definitiv kein Zusammenhang zwischen Tram und Flugzeug bestand bei den Beschaffungskosten», sagt Werner Latscha, der die VBZ zwischen 1960 und 1973 als Direktor durch die stürmische Zeit der Hochkonjunktur steuerte. Während der damalige Stolz der Luftwaffe den vorgegebenen Finanzrahmen sprengte, schlugen die neuen Flaggschiffe der VBZ zwar mit stolzen, aber wohlkalkulierten Stückpreisen von zwischen 742 000 und 820 200 Franken zu Buche. Zum Vergleich: Ein neues «Cobra»-Tram kostet rund 3,4 Millionen. Mit den von einem Konsortium der damaligen Schweizer Rollmaterialindustrie gelieferten Fahrzeugen hätten die Verkehrsbetriebe zwei Ziele verfolgt, erzählt Latscha beim Einkehren in einem Lokal an der Seefeldstrasse, vor dem in Abständen von wenigen Minuten «Mirage»- Kompositionen der Linien 2 und 4 zirkulieren. Einerseits sei es darum gegangen, einem stürmischen Frequenzwachstum zu entsprechen; anderseits habe der Arbeitskräftemangel eine Rationalisierung des Betriebs durch die Abschaffung der Kondukteure in den Wagen sowie durch grössere Fahrzeugeinheiten geradezu erzwungen.
Die Bevölkerung der Agglomeration Zürich nahm damals jährlich um 10 000 bis 15 000 Personen zu, und die Zahl der Stellensuchenden in der Stadt war nur noch knapp eine dreistellige. Unterdessen wurde es in den Trams und Bussen immer enger: 1950 hatten die VBZ 158,8 Millionen Passagiere gezählt, 1960 191,5 Millionen und 1970 202,3 Millionen - zum Vergleich: 2004 beförderten sie 308,3 Millionen Fahrgäste.
Das Tram unverzichtbar gemacht
Allein auf der Linie 7, die damals von Wollishofen nach Oerlikon führte, konnte das Platzangebot mit den «Mirages» in den Spitzenzeiten um 51 Prozent erhöht werden. Gleichzeitig sank der Personalbedarf allein auf dieser Linie um 37 Personen - nicht nur, weil bloss noch im vorderen Wagen ein Kondukteur mitfuhr. Ausschlaggebend für den grossen Sprung war zweifellos, dass die neuen Kompositionen auf dieser Linie unmittelbar Züge aus den zwanziger und dreissiger Jahren ablösten, deren einzelne Fahrzeuge im besten Fall gegen 60 Passagiere aufzunehmen vermochten. In einem einzigen «Mirage»-Motorwagen finden demgegenüber 165 Personen Platz, in Kompositionen mit zwei Fahrzeugen also 330. Indem die VBZ vorsahen, auf den frequenzstärksten Linien 7, 13 und 14 fortan solche Einheiten einzusetzen, legten sie nicht nur den Grundstein zu einem bis heute effizienten Trambetrieb; sie machten das Tram als Verkehrsmittel damit auch definitiv unverzichtbar. Bis heute existiert kein Bus, in dem ein einziger Fahrer so viele Passagiere befördern könnte.
Zupass kamen die grosszügige Rollmaterialbeschaffung und die offensive Betriebsplanung den VBZ spätestens, nachdem die Stimmenden in der Stadt Zürich am 20. Mai 1973 dem Projekt einer U-Bahn eine Absage erteilt hatten. Inwiefern das attraktiver gewordene Tram das Seine zu diesem Verdikt beitrug, das Werner Latscha rückblickend als wachstumskritisches Votum interpretiert, muss offen bleiben. An Glanz gewann die Strassenbahn in Zürich Ende der sechziger Jahre auch, weil die Autos zunehmend und dauerhaft von ihren Geleisen weichen mussten. Dies, nachdem die Stimmenden am 1. April 1962 eine Vorlage für die Verbannung des Trams im Stadtzentrum unter die Erde bachab geschickt hatten. Hinzu kamen weitere Innovationen, die der Stabilität des Betriebs zuträglich waren, insbesondere 1970 der bald um Überwachungsfunktionen erweiterte Betriebsfunk.
Zu den 1966 bis 1969 abgelieferten «Mirages» gesellten sich 1968 und 1969 36 baugleiche Anhängewagen. Um dieselbe Zugkraft zu garantieren, sind auch sie motorisiert; indessen verfügen sie vorne lediglich über ein kleines Steuerpult für Depotfahrten. Ihr Übername leuchtet ein: «Blinde Kühe» heissen sie, weil sie anfänglich über keine Stirnlampe verfügten. Abgesehen davon, dass sie günstiger beschafft werden konnten, waren sie Vorboten einer neuen Betriebsphilosophie. Sollte ursprünglich jeder Motorwagen auch einzeln einsetzbar sein, zeigte sich bald, dass man auf vielen Linien - zumindest tagsüber - nie mehr zu kleineren Gefässen zurückkehren würde.
Ein Gesicht vergangener Tage
Mittlerweile werden die Kompositionen auch in den Randzeiten nicht mehr getrennt - der Betriebsangestellte, der den motorisierten Anhänger ins Depot fährt, ist definitiv zu teuer geworden. Die neuen, längeren «Cobra»-Einheiten üben sich denn auch gar nicht mehr im Paarlauf. Optisch erfuhren die «Mirages» kaum Veränderungen; sie tragen denn auch wesentlich dazu bei, dass das Erscheinungsbild des Trams in Zürich heute wieder ein leicht ergrautes ist. Ihr Interieur strahlt die Nüchternheit der sechziger Jahre aus, man sitzt auf Holz, und das Design der Lautsprecher entspricht jenem von Grossmutters Transistorradio. Technisch brillierte diese Tramgeneration mit zwei Gelenken pro Fahrzeug; sie gestatten es, die Ausladung in Kurven zu minimieren. Entscheidungshilfe geliefert hatten zwei Prototypen von 1960 bzw. 1961. Die für diese Konstruktion notwendigen Gelenk-Feder- Stangen erwiesen sich als einzige Schwachpunkte dieser Tramgeneration; mussten sie schon nach ersten praktischen Erfahrungen nachgerüstet werden, drängte sich vor etwas mehr als einem Jahr eine Überprüfung auf, nachdem sich eine Stange gelöst und eine Frau verletzt hatte.
92 Zentimeter
Unter dem Strich sind die VBZ aber zufrieden mit dem, was ihre «Mirages» bis heute geleistet haben. Zickiges Gehabe, wie es die «Cobra» anfänglich an den Tag gelegt hat, war ihre Sache nie. «Wir lassen sie ungern ziehen», sagt Kurt Sauter. Zu ihrer letzten Hürde, die sie nie werden überwinden können, sind jene 92 Zentimeter geworden, die zwischen der Strasse und ihrem Wagenboden liegen; sie vermögen damit die Vorgaben zur Gleichstellung der Behinderten nie und nimmer zu erfüllen. Drei «Mirages» und zwei «Blinde Kühe» sind bereits unter dem Schneidbrenner gelandet; ob ihnen weitere dorthin folgen oder ob der grossen Serie ein zweiter Frühling in der ehemaligen Sowjetunion oder in Übersee beschert sein wird, ist noch offen. Sicher aber ist ihre Kilometerleistung bis dato in Zürich: Sie bewegt sich bei den «Mirages» in summa auf 203 Millionen zu und bei den «Blinden Kühen» auf 78 Millionen.
Autor: P.S.
Quelle: NZZ online und Printausgabe vom 04.03.2006